Der FC Winterthur bereichert ab der neuen Saison die Super League, womöglich ohne den Trainer Alex Frei, der vor dem Abschied stehen soll. Eine Annäherung an einen faszinierend subversiven Fussballklub – und die Menschen, die ihn dazu gemacht haben.
Nicola Berger, Isabelle Pfister (Text) und Simon Tanner (Fotos), Winterthur
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Hasu Langhart sitzt an einem Freitag im Mai auf der Schützenwiese, im Stadion des FC Winterthur. Hinter ihm die Libero-Bar, sein Reich. Es erklingt Punkrock, ein Hit der Bouncing Souls. Langhart vernichtet eine American-Spirit-Zigarette nach der anderen und sagt: «Früher haben wir oft verloren. War auch cool, es hat irgendwie zu Winti gepasst.»
Langhart ist der Sänger der Peaco*cks, einer Schweizer Punk-Institution. Und als Wirt der Libero-Bar ist er eines der Originale, die den FC Winterthur zu dem machen, was er ist: ein schützenswertes Kulturgut, das sich im modernen Fussball eine bemerkenswerte Eigenständigkeit bewahrt hat, eine Oase der Stehrampenromantik quasi. Wenn der FC Winterthur zu Hause spielt, kocht Langhart für das Team. Später gibt er Shots, Jameson und Jägermeister heraus – und manchmal ein Gratisbier für die Stammkundschaft.
Es ist kein Vergleich mit den anderen Stadien im bezahlten Fussball, in denen man als Besucher schon beim ersten Schluck schlechte Laune bekommt, weil einem für acht Franken abgestandener Schund verkauft wird. Der FC Winterthur bewegt sich weit weg von Systemgastronomie und anderen Schrecklichkeiten, die einem auf jeden Rappen Profit getrimmte Fussballklubs antun. Die Authentizität des FCW wird ab dem Sommer in der Super League zu bewundern sein; am vergangenen Samstag schaffte der Klub nach 37 Jahren die Rückkehr in die höchste Spielklasse.
Das Engagement der Familie Keller
Der Aufstieg hat viele Väter. Aber er wäre ohne die Familie Keller nicht möglich gewesen. Der Patron Hannes W.Keller begann den Klub einst zu sponsern, weil er in der Stadt Verbündete für den Kampf gegen eine Antenne des Mobilfunkanbieters Orange suchte, die auf dem Areal seiner Firma für Druckmesstechnik hätte aufgestellt werden sollen. Keller dachte: Sponsor des lokalen Fussballteams werden, das könnte helfen.
Den Rechtsstreit um die Antenne gewann er – und nebenbei verliebte er sich in diesen Klub, in das Stadion und die Menschen. Er bewahrte den FCW 2001 vor dem Konkurs und wurde Alleinbesitzer. Sein Unternehmen schiesst seither jährlich eine Million Franken ein. Es tritt als Trikotsponsor auf, obwohl Mike Keller, einer der Söhne Hannes Kellers und seit 2019 Präsident des FC Winterthur, sagt: «Wir verkaufen deswegen kein einziges zusätzliches Produkt, unser Geschäft besteht aus 95 Prozent Export. Es ist ein soziales Engagement.»
Als der Vater sich 2015 aus gesundheitlichen Gründen zurückzog, gab er seinen Söhnen Mike und Tobias den Auftrag, neue Klubeigentümer zu finden – auch, weil das Familienoberhaupt es ihnen nicht recht zutraute, sein Vermächtnis weiterzuführen. Die Brüder führten zwei Jahre lang Gespräche, sie empfingen Investoren aus den USA, aus Asien – und kamen zum Schluss, dass sie den Verein nicht abgeben werden. «Wir gelangten zur Überzeugung, dass wir nicht nur den Klub verkaufen würden. Sondern auch seine Seele und in gewisser Weise unsere Ideale», sagt Mike Keller. Gerade er brachte das nicht übers Herz. Er ist mit dem FCW seit vielen Jahren verbunden und erlebte in den 1980er Jahren noch die goldene Zeit in der Nationalliga A.
Statt den Klub abzustossen, modernisierten die Söhne ihn. Sie verpassten ihm neue Strukturen und führten etwas ein, was es unter dem Vater nicht gegeben hatte: eine Leistungskultur. Hannes W.Keller hatte das Credo «Erstklassig zweitklassig» geprägt und gelebt. Einem Aufstieg stand er skeptisch gegenüber, Loyalität gegenüber Menschen, die er mochte, war ihm wichtiger als Resultate; an Trainern hielt er tendenziell zu lange fest. Er verzichtete auf einen Sportchef und liess den befreundeten Spielervermittler Wolfgang Vöge über Transfers entscheiden. Mike Keller sagt: «Für die Zeit hat das alles seine Berechtigung gehabt. Aber wir wollten nicht mehr eine geschützte Werkstatt sein, sondern Ambitionen haben.»
Einer, der den Wandel mitgemacht hat, ist Davide Callà. Callà, 37, war während Jahren einer der besseren Fussballer der Super League, er spielte für den FC Basel und GC, ehe er die Karriere im FCW ausklingen liess, in seiner Stadt, heute ist er Assistenztrainer. Callà sagt: «Ich hatte teilweise das Gefühl, dass das F in FCW für Fun und nicht für Fussball steht.»
Sinnbildlich für den Wandel steht der Entscheid vom letzten Dezember, als der Klub auf Platz 2 den Trainer Ralf Loose entliess und ihn durch Alex Frei ersetzte. Der Präsident Keller sagt: «Unser Vater hätte das nie getan. Aber für uns war es der richtige Entscheid, wir brauchten neue Impulse.» Doch was geschieht, wenn Alex Frei den Verein nun nach nur einem halben Jahr verlässt? Laut Medienberichten steht er kurz vor der Rückkehr zum FC Basel.
Eine Fussballstadt erwacht
Über das Potenzial des FC Winterthur herrschte eigentlich seit langem Konsens. Er hat auffallend viele hervorragende Fussballer hervorgebracht, alleine in den letzten Jahren die Nationalspieler Manuel Akanji, Remo Freuler, Admir Mehmedi und Steven Zuber.
Der Winterthurer René Weiler, ein weit gereister Coach, der inzwischen den japanischen Rekordmeister Kashima Antlers betreut, arbeitete kurz nach der Jahrtausendwende als Sportchef im FCW. Er sagt: «Winterthur hatte immer alle Ansätze zur Fussballstadt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Klub erwacht.»
Das Erweckungserlebnis liess auf sich warten, das macht jetzt den rauschhaften Frühling noch intensiver. Die Zuschauerzahlen in den letzten Monaten waren hoch, manchmal kamen 9000 Menschen, der Klub ist inzwischen der grösste Abnehmer der lokalen Haldengut-Brauerei.
Die Stimmung hat oft etwas von einem Volksfest, aber nicht auf diese tumbe Ballermann-Art, sondern im sehr eigenen Winti-Groove. Vor dem Salon Erika, der Kunstgalerie innerhalb der Fankurve, spielen in der Halbzeit manchmal Bands. Es passt zur Attitüde dieser Stadt, zu ihrem rauen Charme. Sie war schon immer ein Rückzugsort für jene, die sich im mondänen Zürich nicht zurechtfanden.
Winterthur ist davon geprägt, jahrzehntelang ein Industriestandort gewesen zu sein. Ein Wahrzeichen der Stadt ist das ehemalige Sulzer-Hochhaus direkt neben dem Stadion, das lange leer stand und temporär von linken Gruppierungen besetzt wurde. Inzwischen aber ist Winterthur eine Kultur- und Studentenstadt – und ein Ort, von dem Andreas Mösli sagt, dass er seine Identität suche. Mösli ist seit zwei Jahrzehnten der Geschäftsführer des FCW. «Winterthur ist die sechstgrösste Stadt der Schweiz, wird aber immer noch als Provinz verkannt. Die Stadt wartet auf etwas, das sie selbstbewusst sein lässt.» Der FCW, das ist seine Hoffnung, soll dieses Vehikel sein.
Der schiefe Vergleich mit dem FC St.Pauli
Es ist schwierig, einen Klub stärker zu prägen, als Mösli das getan hat. Vieles, was den FC Winterthur heute ausmacht, sein subversiver Geist, ist ihm zu verdanken, dem ehemaligen Punk und früheren Journalisten. Der FCW wird gerne als der «FC St.Pauli der Schweiz» bezeichnet, auch der Assistenzcoach Callà bemüht diesen Vergleich.
Und natürlich gibt es Parallelen: die betont linke, antifaschistische Fan-Szene. Der Umstand, dass der Klub soziale Verantwortung übernimmt, regelmässig Spendenaktionen veranstaltet und an Spieltagen auch Menschen am Rand der Gesellschaft beschäftigt. Die Töne von Hell's Bells vor dem Anpfiff, so wie am Millerntor, dem Stadion von St. Pauli.
Aber die Klubs trennen Welten. Der FC St.Pauli setzt pro Jahr mehr als 50 Millionen Euro um und taugt längst nicht mehr zum Hort für verklärte Fussballromantik, er ist Teil einer Millionenmaschinerie geworden. Im FCW beträgt das Budget knapp sechs Millionen Franken. Und anders als in St.Pauli ist in Winterthur noch niemand auf die Idee gekommen, Duschmittel mit dem Klublogo zu verkaufen.
Die Frage wird sein, wie viel von seiner Magie sich der FCW wird erhalten können, in der Super League, der Liga des Establishments, mit ihren Regeln, Konventionen und ihrer ausgeprägten Humorlosigkeit. Der FCW muss sein Budget um einige Millionen erhöhen und sein Stadion nachrüsten, es gibt einen wahnsinnig langen Katalog mit Auflagen.
Mittelfristig müsste dort, wo heute die Sirup- und die Bierkurve stehen, die Herzkammer dieses Klubs, eine Tribüne in den Himmel gezogen werden. Die Alleinstellungsmerkmale wie der Salon Erika und die noch immer von Hand betriebene, entzückende Stadionuhr müssten dann weichen – obwohl beide Institutionen eigentlich von der Unesco als Weltkulturerbe unter Denkmalschutz gestellt gehörten. Andreas Mösli sagt: «Natürlich wird es weniger romantisch. Dafür realistischer. Romantik ist vor allem Kopfsache, jetzt passiert aber wirklich etwas.»
Vielleicht ist es auch unnötig, sich darum zu sorgen, ob der FC Winterthur seinen rebellischen Geist konservieren kann. Denn in letzter Konsequenz sind es immer noch die Menschen, die diesen Verein zu dem machen, was er ist. Der Sänger und Stadionwirt Langhart sagt, es werde den Klub bereichern, dass «jetzt mal etwas passiert». Frischer Wind sei eine gute Sache. «Wir machen das hier jetzt seit 20 Jahren. Es ist nicht gut, wenn man immer nur von der Nostalgie lebt.»
Mit den Peaco*cks hat er einmal den Song «Gimme More» geschrieben, es ist ihr wahrscheinlich grösster Hit. «Gimme more, more, more / Yeah I want more / And I'll be fine tonight», singt Langhart dort. Die Liedzeilen passen gut zum FC Winterthur im Mai 2022. Nach Jahren im Dornröschenschlaf darf es jetzt gerne ein bisschen mehr sein, ein neues Abenteuer. Es wird schon alles gut.
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